Defintion und Merkmale von Co-Abhängigkeit – eine Orientierungshilfe

Alkoholismus ist leider ein sehr präsenter Aspekt in unserer westlichen Gesellschaft. Es gibt somit darüber viele Fachbücher, Fachartikel, Selbsthilfebücher, Untersuchungen, sowie Statistiken. Alkoholismus kann unabhängig von Alter, Geschlecht, gesellschaftlichen Status und Grad der Ausbildung entstehen. Laut dem Bundesministerium für Gesundheit Deutschland sieht die Situation wie folgt aus:

„…7,9 Millionen Menschen der 18- bis 64-jährigen Bevölkerung in Deutschland konsumieren Alkohol in gesundheitlich riskanter Form. Ein problematischer Alkoholkonsum liegt bei etwa 9 Millionen Personen dieser Altersgruppe vor….“

Das Bundesministerium betont weiters: „…in der Gesellschaft herrscht eine weit verbreitete unkritisch positive Einstellung zum Alkohol vor. Durchschnittlich werden pro Kopf der Bevölkerung jährlich rund zehn Liter reinen Alkohols konsumiert. Deutschland liegt im internationalen Vergleich unverändert im oberen Zehntel….”

Somit scheint die allgemeine Bevölkerung ein Konzept, eine Idee, bzw. eine Vorstellung zu dieser Erkrankung zu haben, wenn nicht sogar direkte Erfahrungswerte. Die Begrifflichkeit „Alkoholismus“ ist in der Alltagssprache stark vorhanden, fast jede erwachsene Person, wenn auf der Strasse befragt, könnte, konfrontiert mit dem Begriff Alkoholerkrankung, mit einer Definition oder zumindest einer Assoziation aufwarten.

Wenn wir allerdings unseren Fokus von der alkoholkranken Person weg- und zu deren Partner_in hinwenden, wird aus psychologischer und psychotherapeutischer Sicht schnell deutlich, dass sich zwischen der alkoholerkrankten Person und der Bezugsperson eine für die Suchterkrankung typische, emotionale Konstellation entwickelt:

Die Fachliteratur sprich von diesem Phänomen als „Co- Abhängigkeit“. Die Co-Abhängigkeit ist ein sozialmedizinisches bzw. psychologisches Konzept, welches sich der Dynamik zwischen einer alkoholkranken Person und seiner_ihrer Partner_in und etwaigen anderen Bezugspersonen widmet. Es zeigt sich, dass Co-Abhängigkeit einen emotionalen Prozess darstellt, der dazu führt, dass die nicht alkoholerkrankte Person in der Beziehung sich immer tiefer in die Sucht des_der Partners_in verstrickt, indem er_sie -meist gut gemeint- anfängt, Verantwortung für die Erkrankung und das Verhalten des_der Alkoholerkrankten zu übernehmen. In diesem Zusammenhang entwickeln co-abhängige Personen Strategien, die nicht nur für sie selbst schädlich sind, sondern auch zusätzlich das Konsum- und Suchtverhalten des_der anderen stabilisieren.

Gesellschaftlicher Aspekt zu Alkohol und Co-Abhängigkeit

Gesellschaftlich wird nach wie vor vermittelt, dass wenn jemand ein „Problem“ mit Alkohol hat, dies ein individuelles Problem darstellt. Selten wird von familienexternen Zeug_innen einer alkoholkranken Person die Stellung des Alkohols in der Gesellschaft thematisiert. Ich bin sicher sie wurden bereits mit dieser so selbstverständlichen Haltung konfrontiert, hier ein Beispiel:

Die Person, die auf einer Festivität keinen Alkohol konsumiert, wird häufiger gefragt, warum sie „nichts“ trinkt, während die Personen, die trinken, sich in keinster Weise erklären müssen!

Dieses simple Alltagsbeispiel zeigt auf, wie unsere westliche Gesellschaft Alkohol salonfähig gemacht hat. Alkohol trinken ist „normal“. Wer damit ein Problem entwickelt und „alkoholkrank“ wird, hat somit ausschliesslich ein individuelles Problem. Diese gesellschaftliche Haltung führt unter anderen nicht nur dazu, dass sich die alkoholkranke Person schämt, sondern auch dazu, dass die co- abhängigen Familienmitglieder sich genauso schämen.

Das co-abhängige System und die zugrundeliegende Dynamik

Co-Abhängige beginnen häufig damit, den Alkoholkonsum des_der anderen zu bagatellisieren, sie entwickeln Erklärungen und beschreiben etliche Alkoholexzesse als Ausnahmen. Schlussendlich fühlen diese nicht nur Scham, sondern entwickeln auch Schuldgefühle bzgl. der Erkrankung des Familienmitglieds. Das co-abhängige System besteht somit aus der alkoholkranken Person und einem_einer Partner_in, der_die ebenfalls seines_ihres dazu beiträgt, indem Rechtfertigungen, Entschuldigungen und Kompensationshandlungen für das (Fehl-) Verhalten der erkrankten Person zur Verfügung gestellt werden. Dies ist in mehrfacher Weise toxisch, denn zum einen erlauben diese Rechtfertigungen und Kompensationshandlungen den weiteren Konsum von Alkohol und zum anderen verhindern sie dadurch, dass die alkoholkranke Person Verantwortung für den eigenen Zustand übernimmt. Es ist ein Versuch, eine nicht zu kontrollierende Situation, nämlich die Abstinenz oder das Konsumverhaltens eines anderen Menschen, zu kontrollieren.

Betroffene formulieren in ihren psychologischen Behandlungen ähnliche Gedankenkonstrukte, einige Beispiele werden hier aufgezählt:

„…wenn ich seine_ihre Stimmung genau genug beobachte und sämtliche Auslöser verhindere, verhindere ich den nächsten Rückfall…“

„…wenn ich in unserer gemeinsamen Firma einiger seiner_ihrer Aufgaben übernehme, hat er:sie weniger Stress und muss dann vielleicht nicht soviel trinken…“

„….wenn ich daheim alles im Griff habe und die Kinder rechtzeitig einschlafen, bevor er nach Hause kommt und wir dann einen ruhigen Abend haben, sieht er, dass er sich daheim um nichts kümmern muss, denn ich kann das alles alleine auch…“

„….wenn er_sie nicht trinkt, ist er_sie ein_e grossartige_r Vater_Mutter und eine_r der liebenswertesten Menschen, daran halte ich fest…“…

Diese Liste könnte noch sehr lange weitergeführt werden, der Grundtenor erscheint jedoch klar: Verantwortung, die der eigenen Person nicht gehört, wird übernommen, in der Annahme, dass dadurch „alles besser wird“. Co- Abhängigkeit ist ein schleichender Prozess. Dieser geschieht nicht von heute auf morgen. Co-Abhängige versuchen meistens sehr lange, den Schein aufrecht zu erhalten, indem sie sich nicht nur um die alkoholerkrankte Person kümmern, sondern zusätzlich um alles weitere auch: den eigenen Job, die Kinder, die Finanzen, den Einkauf, den Haushalt, etc.

Zusätzlich kommt schliesslich unweigerlich der soziale Rückzug:

„….der Kindergeburtstag zuhause? Keine gute Idee, er_sie könnte zu viel trinken…“

„…ein Abend mit Freund_innen, lieber nicht, die Kinder sind in einer schwierigen Phase und er_sie hat viel Stress in der Arbeit, besser ich fahre nach Hause…“.

Co-Abhängige Personen haben gelernt damit zu rechnen, dass in jedem Augenblick der nächste Rückfall alles aus den Fugen heben kann. Diese Angst, Unsicherheit, Nervosität und Anspannung werden mit der Zeit chronisch und wirken sich unweigerlich auf die emotionale Stabilität, die Stimmung sowie auf die psychische und physische Gesundheit aus. Je mehr eine co-abhängige Bezugsperson an Verantwortung übernimmt, desto abhängiger wird die alkoholkranke Person auch von ihr. Kommt es dann soweit, dass eine co-abhängige Bezugsperson sich mit dem Gedanken auseinandersetzt, sich aus der Beziehung zu lösen, kommen unweigerlich seitens der alkoholkranken Person Entschuldigungen, Beteuerungen, Versprechungen etc. In extremen Fällen werden Drohungen ausgesprochen, die an die Schuldgefühle der Co-Abhängigen appellieren:

„…du kannst mich nicht alleine lassen, ich schaffe das nicht ohne dich!“,

„…ich höre auf zu trinken, wir fahren auf Urlaub und fangen dann neu an, es wird so wie früher…“

„..ich weiss nicht was ich mache, wenn du gehst, ich glaube nicht, dass ich dann weiterleben möchte….“

Auch diese Formulierungen sind aus der Psychotherapie mit Co- Abhängigen keine Seltenheit. Die Schuldgefühle und die eigene Unsicherheit wird aktiviert und der Kreis schliesst sich.

Es geht hier nicht darum, die Schuldfrage zu stellen, oder die betroffenen Personen zu verurteilen. Die Schuldfrage ist bei allen Erkrankungen wenig bis gar nicht hilfreich. Worum es aber geht, ist Verantwortung. Jede erwachsene Person hat die Verantwortung für sich, das eigene Verhalten und die eigenen Entscheidungen. Wichtig ist, dass man sich bewusst machen kann, in welchem emotionalem System man sich aufhält. Es geht um eine Bewertung des Ist- Zustandes und einen Abgleich mit dem erwarteten bzw. gewünschten Soll-Zustand. Die alkoholkranke Person hat die Verantwortung für seine_ihre Sucht, dies beinhaltet, sich einzugestehen, dass es ein Problem gibt, es beinhaltet sich Hilfe zu suchen, daran zu arbeiten, das eigene Verhalten zu ändern, einen Entzug zu machen, sich in Behandlung zu begeben, oder eben auch nicht.

Die co-abhängige Person hat die Verantwortung für die eigene Rolle in dem Suchtkreislauft. Welche Verhaltensweisen halten diesen aufrecht? Und wer kommt möglicherweise noch zu Schaden?

Abschliessend

Alkoholismus ist eine Familienerkrankung, sie betrifft ausnahmslos das gesamte Familiensystem, mit schweren Folgen für alle Betroffene. Das Konzept der Co-Abhängigkeit beschreibt die Dynamik, die sich zwangsläufig aufgrund einer Suchterkrankung entwickelt. Dies zu negieren stellt für alle Betroffene ein Risiko dar. Niemand ist zuständig für das Konsumverhalten eines anderen Menschen. Zu versuchen eine nicht zu kontrollierende Situation zu kontrollieren ist aussichtslos. Wichtig ist eine Verantwortungsübernahme für das eigene Verhalten und für die eigenen Entscheidungen. Es gibt immer eine Wahl:

Die alkoholkranke Person kann sich für einen Entzug, Behandlung, Abstinenz, die eigene Gesundheit und für die eigene Familie entscheiden, oder eben nicht.

Die co-ahängige Person kann sich entscheiden zu kompensieren, zu bagatellisieren, zu leugnen, zu übernehmen, oder eben nicht. Je nachdem, wie eine Person entscheidet, wird sich diese Entscheidung ausnahmslos auf die andere Person auswirken. Wenn an einem Rad gedreht wird, muss sich das andere Rad auch drehen. Die Frage ist, in welche Richtung.

Ausschlaggebend ist sich der eigenen Situation und damit einhergehenden Folgen für sich und andere bewusst zu machen und die Verantwortung zu tragen. Es gibt immer eine Wahl, möge sie noch so schwierig erscheinen.


Alkoholentzug und Burnoutbehandlung: Autorin Mag.a Julia McElheney

Autorin: Mag.a Julia McElheney
Klinische- und Gesundheitspsychologin
Forensische Psychologin
Systemische Familientherapeutin


Literaturliste:

  • Arbeitskreis OPD – Abhängigkeitserkrankungen und Arbeitskreis OPD: Modul Abhängigkeitserkrankungen. (2017). Hogrefe.
  • Bundesministerium für Gesundheit – Homepage: https://www.bundesgesundheitsministerium.de.alkohol (2022).
  • Kessler, Julia Maria. (2022). Mitgefangen in der Sucht. Mvgverlag.
  • Kim Berg, Insoo; Miller, Scott D. (2009). Kurzeitherapie bei Alkoholproblemen. Carl-Auer.
  • Klein, Rudolf; Schmidt, Gunther. (2017). Alkoholabhängigkeit. Carl-Auer.
  • Wagner, Elisabeth. (2021). Psychische Störungen verstehen: Orientierungshilfe für Angehörige. Springer.

Weiterführende Links:

Zum Verständnis der Co-Abhängigkeit
Zum Verständnis der Co-Abhängigkeit